FLUCHT
Nachdem
sie Jeods Vorschlag aus jedem erdenklichen Blickwinkel
durchleuchtet hatten und übereingekommen waren, dass sie mitmachen
würden - einige kleine Änderungen vorausgesetzt -, schickte Roran
Nolfavrell los, um Gertrude und Mandel aus dem Gasthaus zu holen,
denn Jeod hatte ihnen angeboten, bei ihm zu wohnen.
»Wenn ihr mich jetzt entschuldigen würdet«,
sagte er und stand auf, »ich muss jetzt meiner Frau beichten, was
ich ihr längst hätte erzählen sollen, und sie fragen, ob sie mich
nach Surda begleitet. Sucht euch im oberen Stockwerk Zimmer aus.
Rolf ruft euch zum Abendessen.« Gemessenen Schrittes verließ er das
Arbeitszimmer.
»Ob das wohl gut ist, dieser keifenden Furie
alles zu verraten?«, fragte Loring.
Roran zuckte mit den Schultern. »Ob gut oder
schlecht, wir können es ohnehin nicht verhindern. Und ich glaube,
Jeod findet keine Ruhe, solange er es ihr nicht erzählt.«
Statt sich ein Zimmer auszusuchen, wanderte
Roran in dem weitläufigen Herrenhaus herum und dachte über Jeods
Geschichte nach. Er blieb vor einem Erkerfenster stehen, das sich
zu den Pferdeställen hinter dem Haus öffnete, und füllte seine
Lungen mit der kühlen, rauchigen Luft, die so vertraut nach Dung
roch.
»Hasst du ihn?«
Erschrocken wandte er sich um und sah Birgit
in einer der Türen stehen. Sie raffte den Schal um die Schultern
und kam zu ihm hinüber.
»Wen?«, fragte er, obwohl er wusste, wen sie
meinte.
»Eragon. Hasst du ihn?«
Roran schaute zum dunkel werdenden Himmel
auf. »Ich weiß nicht. Ich hasse ihn dafür, den Tod meines Vaters
verschuldet zu haben, aber er gehört trotzdem zur Familie und
deshalb liebe ich ihn... Ich nehme an, wenn ich Eragon nicht
bräuchte, um Katrina zu befreien, würde ich mit ihm für sehr lange
Zeit nichts zu tun haben wollen.«
»Es ist genauso wie mit uns beiden,
Hammerfaust. Ich brauche dich und gleichzeitig hasse ich
dich.«
Er schnaubte amüsiert. »Ja, wir beide sind
wie an den Hüften zusammengewachsen, was? Du musst mir helfen,
Eragon zu finden, um dich an den Ra’zac für Quimbys Tod rächen zu
können.«
»Und um mich danach an dir zu rächen.«
»Auch das.« Roran schaute einen Moment lang
in ihre entschlossen blickenden Augen und spürte seine innere
Verbundenheit mit der Frau. Er fand es seltsam tröstlich zu wissen,
dass sie den gleichen Antrieb teilten, das gleiche zornige Feuer,
das sie handeln ließ, wenn andere zauderten. Er erkannte in ihr
eine Seelenverwandte.
Roran setzte seinen Rundgang durchs Haus
fort und blieb vor dem Esszimmer stehen, als er darin Jeods Stimme
vernahm. Neugierig spähte er durch den Spalt zwischen den
Türflügeln. Jeod stand vor einer schmalen blonden Frau, die, wie
Roran annahm, Helen sein musste.
»Falls das, was du sagst, wahr ist, wie
kannst du dann erwarten, dass ich dir traue?«
»Das erwarte ich nicht«, antwortete
Jeod.
»Und doch bittest du mich, wie du selbst ein
Flüchtling zu werden?«
»Du hast mir einmal angeboten, deine Familie
zu verlassen und mit mir bis ans Ende der Welt zu gehen. Du hättest
Teirm lieber heute als morgen den Rücken gekehrt.«
»Das ist lange her. Damals fand ich dich
schmuck mit deinem Degen und deiner Narbe.«
»Ich habe beides noch«, sagte er leise. »Ich
habe viel falsch gemacht, Helen, das ist mir jetzt klar. Aber ich
liebe dich noch immer und möchte dich in Sicherheit wissen. Hier
habe ich keine Zukunft. Wenn ich in Teirm bliebe, würde ich nur
Kummer über deine Familie bringen. Du kannst zu deinem Vater
zurückgehen oder mich begleiten. Tu, was dich am glücklichsten
macht. Ich möchte dich aber trotzdem bitten, mir noch eine Chance
zu geben. Habe den Mut, diesen Ort zu verlassen und unser bitteres
Leben hier zu vergessen. Wir können in Surda ganz von vorne
anfangen.«
Sie sagte lange nichts. »Dieser junge Mann,
der hier war, ist er wirklich ein Drachenreiter?«
»Ja. Veränderungen liegen in der Luft,
Helen. Die Varden sind kurz davor, das Imperium anzugreifen, die
Zwerge sammeln sich und selbst die Elfen rühren sich in ihren
uralten Zauberwäldern. Es wird Krieg geben, und wenn wir Glück
haben, bedeutet das Galbatorix’ Untergang.«
»Bist du den Varden wichtig?«
»Sie haben eine hohe Meinung von mir,
nachdem ich immerhin mitgeholfen habe, Saphiras Ei zu
stehlen.«
»Dann würdest du bei ihnen also eine
Führungsposition bekleiden?«
»Das ist gut möglich.« Er legte ihr die
Hände auf die Schultern und sie wich nicht zurück.
Sie flüsterte: »Jeod, dränge mich nicht! Ich
habe mich noch nicht entschieden.«
»Wirst du darüber nachdenken?«
Sie zitterte. »Natürlich, das werde
ich.«
Roran verspürte einen Stich im Herzen, als
er weiterging.
Katrina...
Beim Abendessen hatte Roran das Gefühl, dass
Helens Blick besonders oft auf ihm ruhte, dass sie ihn heimlich
studierte - und mit Eragon verglich.
Nach dem Essen winkte Roran Mandel zu sich
und ging mit ihm in den Hof hinterm Haus.
»Was gibt’s denn, Hammerfaust?«
»Ich muss mit dir reden.«
»Worüber?«
Roran fingerte am Griff seines Hammers herum
und merkte, dass er sich vorkam wie Garrow, der ihm vor langer Zeit
einmal einen Vortrag über Verantwortung gehalten hatte. Ihm lagen
sogar dieselben Sätze auf der Zunge. Und
so folgt eine Generation auf die andere, dachte er. »Du
hast dich in letzter Zeit mit den Matrosen angefreundet, nicht
wahr?«
»Sie sind ja nicht unsere Feinde,
oder?«
»Zurzeit ist jeder unser Feind. Clovis und
seine Männer könnten sich jeden Moment gegen uns wenden. Dass du
mit ihnen Zeit verbringst, wäre allerdings noch kein Problem, wenn
du darüber nicht deine Pflichten vernachlässigen würdest.« Mandel
zuckte zusammen und seine Wangen liefen rot an, aber er stritt den
Vorwurf nicht ab und behielt dadurch Rorans Wertschätzung. Erfreut
fragte Roran. »Was ist das Wichtigste, was wir im Moment tun
können?«
»Unsere Familien schützen.«
»Richtig. Und was noch?«
Mandel zögerte unsicher, dann gestand er:
»Ich weiß nicht.«
»Einander helfen. Es ist unsere einzige
Möglichkeit zu überleben. Besonders enttäuscht hat mich, dass du
mit den Matrosen um Essen gespielt hast, denn das bringt das ganze
Dorf in Gefahr. Du würdest deine Zeit besser nutzen, wenn du jagen
gehen würdest, statt Würfel zu spielen oder Messerwerfen zu üben.
Ohne deinen Vater bist du jetzt
derjenige, der deine Mutter und deine Geschwister durchbringen
muss. Sie brauchen dich. Habe ich mich deutlich ausgedrückt?«
»Ja, Hammerfaust«, antwortete Mandel mit
erstickter Stimme.
»Wird so etwas noch einmal vorkommen?«
»Nein, nie wieder.«
»Gut. Nun, ich bin nicht nur mit dir hier
hergekommen, um dir ins Gewissen zu reden. Du bist ein
vielversprechender Bursche, und deshalb gebe ich dir eine Aufgabe,
die ich normalerweise nur einem älteren und erfahreneren Mann
anvertrauen würde.«
»Danke, Hammerfaust!«
»Morgen früh kehrst du in unser Lager am
Strand zurück und übermittelst Horst eine Botschaft. Jeod glaubt,
dass Spione des Imperiums sein Haus beobachten, deshalb ist es
lebenswichtig, dass dir niemand folgt. Warte, bis du aus der Stadt
heraus bist, und dann schüttelst du jeden ab, der dir
hinterherschleicht. Wenn es sein muss, töte ihn. Horst sagst du, er
soll...«
Während Roran dem Knaben Anweisungen gab,
sah er, wie Mandel ihn erst erschrocken und schließlich ehrfürchtig
ansah.
»Was ist, wenn Clovis Ärger macht?«, fragte
er.
»In der Nacht zerbrecht ihr die
Steuerflossen der Barken. Das ist zwar hinterhältig, aber es wäre
schlimm, falls Clovis oder einer seiner Männer vor euch nach Teirm
gelangte.«
»Das wird nicht passieren«, schwor
Mandel.
Roran lächelte. »Gut.« Zufrieden, zwei
Aufgaben auf einmal erledigt zu haben - Mandels Erziehungsmaßnahme
und die Botschaft für Horst -, ging Roran zurück ins Haus und sagte
seinem Gastgeber Gute Nacht.
Mit Ausnahme von Mandel verbrachten Roran
und seine Gefährten den ganzen nächsten Tag in dem eleganten
Herrenhaus und nutzten die Verzögerung, um sich auszuruhen, die
Waffen zu schärfen und ihre Strategie zu durchdenken.
Im Laufe des Tages sahen sie kaum etwas von
Helen; Rolf, dem Diener, der sein falsches Lächeln spazieren
führte, begegneten sie öfter, während der Hausherr selbst am Hafen
war und dort scheinbar zufällig einige alte Seefahrerfreunde traf,
Männer, die er auf der Expedition gerne an seiner Seite
hätte.
Bei seiner Rückkehr erklärte er Roran: »Wir
haben fünf neue Mitstreiter an Bord. Ich hoffe nur, das reicht!«
Den Abend verbrachte Jeod in seinem Arbeitszimmer, wo er
verschiedene juristische Dokumente zusammenlegte und seine
Angelegenheiten ordnete.
Drei Stunden vor Tagesanbruch standen Roran,
Loring, Birgit, Gertrude und Nolfavrell auf und fanden sich an der
Haustür ein. Sie hatten lange Kapuzenmäntel an, um ihre Gesichter
zu verbergen. Als Jeod herunterkam, trug er einen Degen, und Roran
fand, dass die schlanke Waffe perfekt zu dem schlaksigen Mann
passte - als würde sie Jeod erst zu dem machen, der er wirklich
war.
Jeod entzündete eine Öllampe und hielt sie
vor den anderen hoch. »Seid ihr bereit?« Sie nickten. Er öffnete
ihnen die Tür und sie marschierten nacheinander hinaus auf die
gepflasterte Straße. Jeod blieb auf der Schwelle stehen und schaute
ein letztes Mal die Treppe hinauf, doch Helen kam nicht. Er trat
kopfschüttelnd hinaus und zog die Tür hinter sich zu.
Roran legte ihm tröstend einen Arm um die
Schultern. »Es soll wohl nicht sein.«
»Sieht ganz danach aus.«
Sie eilten durch die dunkle Stadt und
verlangsamten ihre Schritte, wann immer sie Wachen sahen oder
Nachtschwärmer, die bei ihrem Anblick jedoch sofort davonhuschten.
Einmal hörten sie auf einem nahen Hausdach einen dumpfen Knall.
»Der Aufbau der Stadt ermöglicht es Einbrechern, mühelos von einem
Dach zum anderen zu springen«, erklärte Jeod.
Als Teirms Osttor in Sicht kam,
verlangsamten sie erneut ihre Schritte. Weil hinter dem Tor der
Hafen lag, wurde es nachts nur für vier Stunden geschlossen, um den
Handel nicht zu stören. In der Tat waren dort schon viele Leute
unterwegs.
Obwohl Jeod sie vorgewarnt hatte, wurde
Roran nervös, als die Wachen ihre Lanzen kreuzten und fragten, was
sie am Hafen zu suchen hätten. Er leckte sich über die Lippen und
versuchte, nicht herumzuzappeln, während der ältere der beiden
Soldaten die Schriftrolle musterte, die Jeod ihm in die Hand
drückte. Nach einer langen Minute nickte der Wachmann und gab die
Schriftrolle zurück. »Ihr könnt passieren.«
Als sie außer Hörweite der Soldaten waren,
sagte Jeod: »Gut, dass der Kerl nicht lesen kann.«
Die sechs warteten auf den feuchten Planken
der Hafenmole, bis Jeods Männer einer nach dem anderen aus dem
grauen Morgendunst heraustraten, der über der Küste lag. Es waren
kräftige, wortkarge Seeleute mit langen, geflochtenen Zöpfen,
teerverschmierten Händen und beeindruckenden Narbensammlungen, die
selbst Roran Respekt abrangen. Ihm gefiel, was er sah, und er
merkte, dass sie ihn ihrerseits wohlwollend musterten.
Über Birgit waren sie allerdings weniger
erfreut. Einer der Seemänner, ein großer, muskulöser Kerl, zeigte
mit dem Daumen auf sie und schimpfte zu Jeod: »Du hast nicht
gesagt, dass eine Frau mitmachen würde. Wie soll ich mich
konzentrieren, wenn mir ständig ein dummes Weibsbild im Weg
steht?«
»Rede nicht so über meine Mutter«, presste
Nolfavrell zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
»Ach, und ihr Balg ist auch dabei.«
Mit ruhiger Stimme sagte Jeod: »Birgit hat
gegen die Ra’zac gekämpft. Und ihr Sohn hat bereits einen von
Galbatorix’ Soldaten getötet. Kannst du das von dir auch behaupten,
Uthar?«
»Es ist nicht gut«, sagte ein anderer Mann.
»Ich fühl mich nicht sicher, wenn eine Frau dabei ist. Sie bringen
Pech! Weiber haben bei einem -«
Er kam nicht dazu, den Satz zu beenden, denn
in diesem Moment tat Birgit etwas nicht sehr Damenhaftes: Sie
sprang vor und trat Uthar zwischen die Beine, dann packte sie den
zweiten Seemann und drückte ihm ihr Messer an die Kehle. Sie hielt
ihn einen Moment lang fest, damit jeder sah, was sie getan hatte,
dann ließ sie den Seemann wieder los. Uthar lag schmerzgekrümmt am
Boden und stieß einen Schwall derber Seefahrerflüche aus.
»Hat noch jemand etwas vorzubringen?«,
fragte Birgit in die Runde. Neben ihr starrte Nolfavrell seine
Mutter mit offenem Mund an.
Roran zog die Kapuze ins Gesicht, um sein
Grinsen zu verbergen. Gut, dass sie
Gertrude nicht bemerkt haben, dachte er.
Als niemand mehr wagte, Birgit
herauszufordern, fragte Jeod die Männer: »Habt ihr mitgebracht,
worum ich euch gebeten habe?« Jeder der Matrosen griff in seine
Weste und zog einen schweren Knüppel und ein Seil hervor.
Derart bewaffnet, gingen sie durch den Hafen
auf die Drachenschwinge zu und
versuchten, nicht allzu sehr aufzufallen. Jeod klappte die Blenden
der Öllampe herunter. Kurz vor dem Pier versteckten sie sich hinter
einem Lagerhaus und beobachteten die beiden Soldaten, die mit
Laternen über das schaukelnde Schiffsdeck schlenderten. Die
Laufplanke hatte man für die Nacht hochgezogen.
»Vergesst nicht«, flüsterte Jeod, »am
wichtigsten ist, dass kein Alarm geschlagen wird, bevor wir
auslaufen.«
»Zwei Mann oben, zwei Mann unten,
stimmt’s?«, fragte Roran.
Uthar antwortete: »Mindestens.«
Roran und Uthar zogen ihre Beinkleider aus,
schlangen sich die Seile samt Knüppel um die Hüften - den Hammer
gab Roran in Gertrudes Obhut -, schlichen an der Kaimauer entlang
und ließen sich ins eiskalte Wasser hinab.
»Brrrr, ich hasse es, wenn ich so was tun
muss«, sagte Uthar.
»Hast du so etwas schon mal gemacht?«
»Viermal. Bleib immer in Bewegung, sonst
erfrierst du!«
Sie hielten sich dicht an der Kaimauer und
schwammen auf die Drachenschwinge zu. »Ich nehme den
Steuerbord-Anker«, flüsterte Uthar. Roran nickte.
Dann tauchte Uthar wie ein Frosch unter dem
Kiel hinweg, während Roran leise auf den Backbord-Anker zuschwamm
und sich an die dicke Eisenkette klammerte. Er zog den Knüppel
unter dem Seil hervor, steckte ihn sich zwischen die Zähne, damit
sie aufhörten zu klappern und um ihn griffbereit zu haben, und
wartete. Das kalte Metall zehrte seine Körperwärme auf wie ein
Eisblock.
Kaum drei Minuten später hörte Roran über
sich Birgits feste Schritte auf dem Pier, als sie auf
die Drachenschwinge zumarschierte und die beiden
Wachen in ein Gespräch verwickelte.
Jetzt!
Roran zog sich an der Ankerkette hinauf.
Seine rechte Schulter begann wieder zu schmerzen, doch davon ließ
er sich nicht abhalten. An der Stelle, wo die Ankerkette im
Schiffsrumpf versenkt war, kletterte er auf den erkerartigen
Vorbau, der die Galionsfigur trug, und stieg über die Reling aufs
Vorderdeck. Uthar war schon da, klitschnass und nach Luft
hechelnd.
Mit den Knüppeln in Händen schlichen sie zum
Achterdeck und duckten sich hinter allem, was ihnen Schutz bieten
konnte. Keine drei Meter hinter den Wachen blieben sie stehen. Die
beiden Soldaten beugten sich über die Reling und plauderten mit
Birgit.
Blitzschnell stürmten Roran und Uthar vor
und schlugen die Wachen auf den Hinterkopf, noch bevor die Männer
ihre Säbel zücken konnten. Unten winkte Birgit Jeod und die
restliche Gruppe heran. Roran und Uthar nahmen die hölzerne
Laufplanke, schoben sie vom Schiff hinunter und Uthar befestigte
sie an der Verstrebung.
Als Nolfavrell an Bord gerannt kam, warf
Roran dem Jungen sein Seil zu und sagte: »Fessle und kneble die
beiden.«
Dann eilten alle bis auf Gertrude unter
Deck, um die anderen Wachen außer Gefecht zu setzen. Sie entdeckten
vier weitere Männer - den Zahlmeister, den Hochbootsmann, den
Schiffskoch und dessen Helfer -, die sie allesamt aus den Betten
warfen und fesselten. Wer sich wehrte, bekam den Knüppel zu
spüren.
Auf Jeods Befehl hin mussten sich die
störrischen Gefangenen an Deck in einer Reihe nebeneinander setzen,
damit man sie ununterbrochen im Auge behalten konnte. Dann sagte
der Händler: »Wir haben viel zu tun und wenig Zeit. Roran, Uthar
ist Kapitän auf der Drachenschwinge. Du und die anderen werdet
seinen Befehlen folgen!«
In den nächsten zwei Stunden herrschte auf
dem Schiff geschäftige Betriebsamkeit. Die Matrosen kümmerten sich
um die Takelage, während Roran und seine Gefährten unnütze Fracht -
zum Beispiel Ballen von roher Wolle - aus den Laderäumen schleppten
und auf der Steuerbordseite vorsichtig ins Wasser hinabließen,
damit man im Hafen das Platschen nicht hörte. Wenn alle
Dorfbewohner in der Drachenschwinge unterkommen sollten, musste
man ihnen so viel Platz wie möglich schaffen.
Roran war gerade dabei, ein Seil um ein Fass
zu schlingen, als er einen heiseren Ausruf hörte: »Da kommt
jemand!« Bis auf Jeod und Uthar warfen sich alle flach auf den
Bauch und langten nach ihren Waffen. Die beiden Männer, die stehen
blieben, schlenderten über das Schiff, als wären sie die Wachen.
Roran klopfte das Herz bis zum Hals, während er reglos dalag und
sich fragte, was als Nächstes geschehen würde. Er hielt den Atem
an, als Jeod etwas zu dem Neuankömmling sagte... und dann hörte er
Schritte auf der Laufplanke.
Es war Helen.
Sie trug ein schlichtes Kleid, ihre Haare
waren unter einem Kopftuch zusammengebunden und sie hatte einen
Leinensack über die Schulter geschlungen. Sie brachte ihr Gepäck
wortlos in die Hauptkabine und trat anschließend zu Jeod an die
Reling. Roran meinte, nie einen glücklicheren Mann gesehen zu
haben.
Der Himmel über den fernen Bergen des
Buckels hatte gerade begonnen, sich aufzuhellen, als einer der
Matrosen in der Takelage nach Norden zeigte und einen Pfiff
ausstieß, um zu signalisieren, dass er die Dorfbewohner erspäht
hatte.
Jetzt wurde die Zeit wirklich knapp. Roran
eilte übers Deck und blickte auf den dunklen Menschenstrom, der
entlang der Küste auf den Hafen zumarschiert kam. Weil im Gegensatz
zu anderen Küstenstädten Teirm zum Schutz vor Piratenangriffen auch
zum Meer hin ummauert war und lediglich die direkt am Hafen
liegenden Gebäude ungeschützt waren, hatten die Dorfbewohner direkt
zurDrachenschwinge heranlaufen
können.
»Beeilt euch, beeilt euch!«, rief
Jeod.
Auf Uthars Befehl holten die Matrosen die
Katapultspeere an Deck, dazu Fässer voll übel riechendem Teer, den
sie auf die vorderen Speerhälften schmierten. Danach luden sie die
Katapulte auf der Steuerbordseite, wobei jeweils zwei Mann pro
Schleuder nötig waren, um die dicken Sehnen zurückzuziehen und
einzuhaken.
Die Dorfbewohner hatten zwei Drittel des
Weges zum Schiff zurückgelegt, als die auf der Stadtmauer
wachhabenden Soldaten den Menschenstrom erblickten und Alarm
bliesen. Noch bevor der erste Trompetenton verklungen war, rief
Uthar: »Anzünden und feuern!«
Die Blenden an Jeods Öllampe geöffnet,
rannte Nolfavrell von einem Katapult zum nächsten und hielt die
Flamme an die Speerspitzen, bis sich der Teer entzündete. Sobald
ein Geschoss brannte, zog der dahinter stehende Mann die Reißleine,
und der Speer schnellte zischend los. Alles in allem wurden zwölf
brennende Geschosse abgefeuert, die sich wie herabstürzende Meteore
in die umliegenden Schiffe und Hafengebäude bohrten.
»Spannen und nachladen!«, brüllte
Uthar.
Das Knarren des sich biegenden Holzes
erfüllte das Morgengrauen, während die Männer die dicken Sehnen
erneut zurückzogen und einhakten. Speere wurden eingelegt.
Nolfavrell trat wieder mit der Öllampe in Aktion. Roran spürte die
Vibration in den Füßen, als das Katapult vor ihm sein tödliches
Projektil auf die Reise schickte.
Das Feuer breitete sich rasend schnell um
den Hafen aus und bildete eine undurchdringliche Mauer, die
verhinderte, dass die Soldaten durch das Osttor zur Drachenschwinge gelangen konnten. Roran hatte
darauf gezählt, dass der Rauch das Schiff vor den Bogenschützen auf
dem Wehrgang verbergen würde, doch der nun folgende Pfeilhagel
pfiff nur haarscharf an der Takelage vorbei, und ein einzelnes
Geschoss bohrte sich direkt neben Gertrude ins Deck, bevor die
Soldaten das Schiff aus dem Blick verloren.
Am Bug rief Uthar: »Immer weiter
feuern!«
Die Dorfbewohner stürmten jetzt blindlings
über den Strand. Sie erreichten die Nordseite des Hafens und einige
gerieten ins Stolpern und stürzten, als die Bogenschützen in Teirm
nun sie ins Visier nahmen. Die Kinder schrien verängstigt. Doch
schließlich hatten die Dorfbewohner den Pfeilhagel hinter sich
gelassen. Sie rannten über die Hafenmole an einem brennenden
Lagerhaus vorbei, hetzten über den Pier und kamen in einem wilden
Durcheinander aufs Schiff gestürmt.
Birgit und Gertrude dirigierten den
Menschenstrom zu den Ladeluken am Vorder- und Achterdeck. Binnen
weniger Minuten waren die verschiedenen Ebenen des Schiffs bis in
den hintersten Winkel gefüllt, von den Laderäumen bis zur
Kapitänskajüte. Diejenigen, für die es unten keinen Platz mehr gab,
blieben an Deck und hielten sich Fisks Schilde über die
Köpfe.
Wie Roran in seiner Botschaft an Host
angeordnet hatte, versammelten sich alle kräftigen Männer aus
Carvahall um den Hauptmast und warteten nun auf weitere Befehle.
Roran sah Mandel in ihrer Mitte stehen und zwinkerte ihm
anerkennend zu.
Dann deutete Uthar auf einen der Matrosen
und rief: »Du da, Bonden! Geh mit ein paar von diesen Landeiern an
die Winden und hol die Anker ein! Und dann ab an die Ruder, und
zwar hurtig!« Den Männern an den Steuerbord-Katapulten rief er zu:
»Die Hälfte von euch rüber auf die Backbordseite! Nehmt alles unter
Beschuss, was sich dem Schiff nähert!«
Auch Roran wechselte die Seite. Während er
ein Katapult lud, kamen noch einige Nachzügler aus dem Rauch aufs
Schiff getaumelt. Neben ihm führten Jeod und Helen die sechs
Gefangenen zur Laufplanke und schubsten die Männer zum Pier
hinunter.
Bevor Roran es so recht mitbekam, hatten die
Matrosen die Anker gelichtet, und auf dem ersten Unterdeck erklang
eine Trommel, die den Ruderern den Rhythmus vorgab.
Die Drachenschwingedrehte sich
steuerbords zum offenen Meer hin und nahm langsam Fahrt auf.
Roran ging mit Jeod zum Achterdeck, wo sie
mit ansahen, wie das Feuer alles Brennbare zwischen Teirms Osttor
und dem Ozean verzehrte. Hinter den Rauchschwaden sah die über der
Stadt aufgehende Sonne aus wie eine flache, aufgeblähte
orangefarbene Scheibe.
Wie viele Menschen habe
ich wohl jetzt umgebracht?, fragte sich Roran
beklommen.
Als wollte er den Gedanken aufnehmen, sagte
Jeod: »Bei einem solchen Gefecht kommen viele Unschuldige ums
Leben.«
Sein Schuldgefühl ließ Roran vehementer
antworten, als er gewollt hatte: »Würdest du lieber in Ristharts
Kerker verrotten? Ich glaube nicht, dass der Brand viele Opfer
fordern wird, und die, die davonkommen, haben im Gegensatz zu uns
nichts vom Imperium zu befürchten.«
»Du musst mich nicht belehren, Roran. Ich
kenne die Argumente nur zu gut. Wir haben getan, was wir tun
mussten. Aber es bereitet mir kein Vergnügen, anderen Leid zufügen
zu müssen, um uns in Sicherheit zu bringen.«
Gegen Mittag wurden die Ruder eingeholt und
die Drachenschwinge segelte,
angetrieben von günstigen Nordwinden, aus eigener Kraft weiter. Der
starke Luftstrom erzeugte ein leises Summen in der Takelage.
Das Schiff war überfüllt, doch Roran hoffte
trotzdem, dass sie es mit so wenig Unannehmlichkeiten wie möglich
bis nach Surda schaffen würden, wenn sich alle am Riemen rissen.
Das schwierigste Problem war die knappe Verpflegung: Wenn niemand
verhungern sollte, mussten sie das Essen streng rationieren.
Außerdem bestand in so beengten Quartieren immer
Seuchengefahr.
Nachdem Uthar eine kurze Ansprache über die
Wichtigkeit von Disziplin an Bord eines Schiffes gehalten hatte,
widmeten sich die Dorfbewohner ihren vordringlichsten Aufgaben: Als
Erstes kümmerten sie sich um die Verletzten, dann packten sie ihre
kärglichen Habseligkeiten aus und richteten ihre Schlafplätze ein.
Außerdem wurden Leute zum Küchendienst eingeteilt, und es wurde
bestimmt, wer sich unter Uthars Männern zum Matrosen anlernen
lassen sollte.
Roran half Elain dabei, eine Hängematte
anzubringen, als er unversehens in einen heftigen Streit zwischen
Odele, ihrer Familie und Frewin hineingezogen wurde, der sich von
Clovis’ Mannschaft abgesetzt hatte, um bei Odele zu bleiben. Die
beiden wollten heiraten, was Odeles Eltern strikt ablehnten, weil
der junge Seemann angeblich keine eigene Familie, keinen
respektablen Beruf und keinerlei Mittel hatte, um ihrer Tochter ein
Mindestmaß an Komfort bieten zu können. Roran fand es am klügsten,
wenn das verliebte Paar zusammenbliebe. Es schien ihm unzweckmäßig,
die beiden an Bord eines überfüllten Schiffes voneinander zu
trennen. Doch Odeles Eltern schenkten seinen Argumenten keine
Beachtung.
Frustriert sagte Roran: »Was wollt ihr denn
tun? Ihr könnt sie nicht einsperren, und ich glaube, Frewin hat zur
Genüge bewiesen, dass er sie aufrichtig -«
»Ra’zac!«
Der Ruf kam aus dem Krähennest.
Ohne nachzudenken, riss Roran den Hammer
unterm Gürtel hervor, fuhr herum und stürmte die Leiter zur
vorderen Frachtluke hinauf. Er rannte zu der Menschentraube auf dem
Achterdeck und blieb neben Horst stehen.
Der Schmied deutete zum Himmel.
Eines der Furcht erregenden Flugrösser
schwebte wie ein zerrissener Schatten über der Küste; auf seinem
Rücken saß ein Ra’zac. Die beiden monströsen Wesen im Tageslicht zu
sehen, verringerte nicht im Geringsten das Entsetzen, das sie in
Roran heraufbeschworen. Er schauderte, als die geflügelte Kreatur
einen markerschütternden Schrei ausstieß und danach die zischende
Stimme des Ra’zac leise, aber deutlich vernehmbar, über das Wasser
driftete. »Ihr werdet nicht entkommen!«
Roran schaute auf die Katapulte, aber ihre
Reichweite war zu gering, um den Ra’zac oder sein Flugross zu
treffen. »Hat jemand einen Langbogen?«
»Ja, ich«, sagte Baldor. Er hockte sich hin
und hakte die Sehne ein. »Er soll mich nicht sehen.« Die Leute auf
dem Achterdeck bildeten einen Kreis um Baldor und schirmten ihn so
von dem unheilvollen Blick des Ra’zac ab.
»Warum greift er nicht an?«, brummte
Horst.
Ratlos suchte Roran nach einer Erklärung,
aber ihm fiel keine ein. Da sagte Jeod: »Vielleicht ist es ihnen zu
hell. Ra’zac jagen in der Nacht und kommen, so weit ich weiß, nur
ungern aus ihren Höhlen, wenn die Sonne am Himmel steht.«
»Nicht nur das«, sagte Gertrude. »Ich
glaube, sie fürchten sich vor Wasser.«
»Vor Wasser?«, fragte Horst ungläubig.
»Sieh doch: Er kommt nie mehr als ein paar
Meter aufs Meer hinausgeflogen.«
»Sie hat Recht«, sagte
Roran. Endlich zeigen die Ra’zac eine
Schwäche, die ich ausnutzen kann!
Wenige Sekunden später sagte Baldor: »Ich
bin bereit!«
Auf sein Wort hin traten die vor ihm
stehenden Leute zur Seite, damit er freie Schussbahn hatte. Baldor
sprang auf, zog die Federn an die Wange und ließ den
Schilfrohrschaft los.
Es war ein heroischer Schuss. Der Ra’zac
flog am Rande der Reichweite des Langbogens - Roran hatte noch nie
einen Bogenschützen aus dieser Entfernung treffen sehen, doch
Baldor gelang das Kunststück. Sein Pfeil bohrte sich in die linke
Flanke des Flugrosses, woraufhin das Ungetüm ein so
schmerzerfülltes Kreischen ausstieß, dass alles Glas an Deck
zersprang und an der Küste die Felsen splitterten. Roran hielt sich
die Ohren zu, um sich vor dem infernalischen Lärm zu schützen. Noch
immer kreischend, drehte das Flugross landeinwärts ab und
verschwand hinter den dunstverhangenen Bergen.
»Hast du es getötet?«, fragte Jeod. Sein
Gesicht war kreidebleich.
»Leider nicht«, antwortete Baldor. »Es war
bloß eine Fleischwunde.«
Loring, der gerade dazukam, bemerkte
zufrieden: »Ja, aber du hast der geflügelten Ratte wehgetan, und
ich wette, beim nächsten Mal überlegen sie es sich zweimal, ob sie
uns angreifen sollen.«
Niedergeschlagenheit breitete sich in Roran
aus. »Spar dir deinen Jubel, Loring. Das war kein Sieg.«
»Warum nicht?«, fragte Horst.
»Weil Galbatorix jetzt weiß, wo wir
sind.«
Auf dem Achterdeck wurde es still, als die
Menschen begriffen, was das bedeutete.